Was bedeutet „Superwahljahr“? Warum war 2011 eines und 1999 nicht?

Ein Superwahljahr ist ein Jahr, in dem viele Wahlen mit einer größeren Bedeutung in einem Land stattfinden. Wie groß die Anzahl der Wahlen ist und wie bedeutsam die Wahlen sein müssen, ist willkürlich.

In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, darzulegen, welche Jahre aufgrund welcher Wahlen als Superwahljahre bezeichnet wurden, und es wird versucht, zu beantworten, warum 2011 ein Superwahljahr war und 1999 nicht.

1. Wann gab es Superwahljahre?

1.1 Recherche mittels Zeitungskorpus

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) nutzt eine Vielzahl bedeutender überregional verbreiteter Tages- und Wochenzeitungen, um Wortverlaufskurven ab 1946 darzustellen (dwds.de). Diese zeigen, wie oft ein Wort im Laufe der Zeit verwendet wurde.

Die folgende Grafik (von dwds.de) zeigt, wann das Wort „Superwahljahr“ in Zeitungen verwendet wurde. Zu bedenken ist hierbei, dass die Häufigkeit des Gebrauchs dieses Wortes in einem bestimmten Jahr nur bedingt ausdrückt, dass dieses Jahr ein „Superwahljahr“ war. Recht oft wird in Zeitungsartikeln bereits im Vorjahr von drohenden Wahlen berichtet – und so eben auch von einem drohenden „Superwahljahr“.

"Superwahljahr", dwds.de

Besonders auffallend sind in der Wortverlaufskurve die Wahljahre 1994, 2004, 2009 und 2011. Sind diese (und nur diese) Superwahljahre in Deutschland? Wörter durchlaufen evolutionäre Prozesse und können aus unterschiedlichsten Gründen öfter oder seltener gebraucht werden, sie müssen sich allerdings erst aus anderen entwickelt haben oder neugeschöpft worden sein. Das Wort „Superwahljahr“ kam laut DWDS eben erst Anfang der 1990er Jahre auf und wurde bei größeren Häufungen von Wahlen immer wieder verwendet.

1.2 Exkurs: Recherche auf sueddeutsche.de

Ein Versuch, Superwahljahre zu finden, führte zu Online-Ausgaben von Zeitungen. Spiegel, Zeit und Bild haben keine besonders ausgefeilten Suchfunktionen. Wer Artikel nach Veröffentlichungszeitpunkt oder -Zeitraum filtern mag, wird dafür bei der Süddeutschen fündig. So gab es das erstaunliche Ergebnis, dass das Jahr 2008 ein Superwahljahr gewesen ist (sueddeutsche.de).

Superwahljahr 2008?

Aus bundesdeutscher Perspektive ist das erstaunlich, aber mit der blau-weißen CSU-Brille sieht das Jahr 2008 mit Kommunal- und Landtagswahl sicherlich wie ein Superwahljahr aus. Im Rest der Republik war das Jahr durchschnittlich: 4 Landtagswahlen sind nur wenig mehr als der Durchschnitt von 3,75 pro Jahr seit 1990 und zählt man Bundestag, Europa und Kommunalwahlen mit, so war 2008 mit insgesamt 8 Wahlen sogar ein unterdurchschnittliches Wahljahr. Also war 2008 sicherlich kein Superwahljahr außerhalb Bayerns.

Die Recherche auf sueddeutsche.de gestaltete sich äußerst schwierig. Zwar erscheint die Suchfunktion fortschrittlich und benutzerfreundlich, allerdings steckt ein fehlerhafter Datensatz dahinter. Und in einem solchen sucht es sich nicht gut. Erstes Beispiel: Zählt man jedes Jahr die Artikel auf sueddeutsche.de, die das Wort „Superwahljahr“ beinhalten, so ergibt es für das Jahr 2008 5 Treffer und die Folgejahre 5, 17, 99 und 43. Das Maximum der Erwähnungen 99 ist also im Jahr 2010 – also in einem Jahr, in dem es kaum hätte weniger Wahlen geben können: Es gab gerade einmal eine Landtagswahl in NRW. Man müsste aber erwarten, dass es vor und nach einem sogenannten Superwahljahr durchaus erhöhte Erwähnungen dieses Begriffs gibt, aber sicherlich nicht mehr als in eben dem Superwahljahr selbst. Ein genauer Blick auf die Erwähnungen des Begriffs „Superwahljahr“ zeigte Artikel, die schlicht und einfach falsch datiert sind:

Der Artikel „Fan-Volk gleich Wahl-Volk“ ist mit „17. Mai 2010, 21:31 Uhr“ datiert und beinhaltet das Wort „Superwahljahr“: „In diesem Superwahljahr 2009 stehen noch 13 Urnengänge an“. Und er gibt Ausblick auf einen 1. Februar mit einem Super Bowl, in welchem Pittsburgh Steelers und Arizona Cardinals aufeinandertreffen. Damit sind wir im Jahr 2009. Der Artikel wurde also nicht am 17. Mai 2010, sondern im Januar 2009 veröffentlicht. Artikel wie diese gibt es einige (bspw. sueddeutsche.de und sueddeutsche.de). Diese wurden alle binnen weniger Minuten am 17. Mai veröffentlicht bzw. wiederveröffentlicht, oder es gibt andere technische Gründe für die falsche Datierung.

1.3 Recherche auf Wikipedia

Auf Wikipedia (de.wikipedia.org/wiki/Superwahljahr) wird das Phänomen und der Begriff „Superwahljahr“ erklärt und es werden einige Jahre als ebensolche Superwahljahre bezeichnet, obgleich zugestanden wird, dass der Begriff willkürlich und nicht genau definiert sei (was allerdings an Ersterem nur marginal was ändern würde!). Genannt wird das Jahr 1990 (als erstes eigentliches, aber noch nicht so bezeichnetes Superwahljahr), und die Jahre 1994, 2009, 2011 und 2021. Im Folgenden wird beleuchtet, welche Gründe es dafür (oder nicht) gibt, sie „Super“-Wahljahre zu nennen.

1.4 Recherche auf Google Trends

Google Trends (trends.google.com) zeigt, wie oft bestimmte Suchbegriffe bei Google eingegeben wurden. Daraus kann man nicht nur das Interesse an bestimmten Begriffen, sondern auch deren Verbreitung und Gebrauch ablesen. Nach „Superwahljahr“ wurde besonders oft 2004, 2009 und 2011 gesucht. Außerdem scheint 2021 ein Superwahljahr zu werden. Sind das nun die deutschen Superwahljahre seit der Wende? Vermutlich wird umso mehr „Superwahljahr“ gesucht, je öfter Medien davon sprechen und schreiben. Zu berücksichtigen ist bei Google auch, dass im Jahr 2004 das Internet für einen größeren Teil der Bevölkerung Neuland war als heute – fast zwei Jahrzehnte später. Damit lässt die Statistik 2004 noch nicht so viele Rückschlüsse auf den Gebrauch von Wörtern in der Bevölkerung zu.

Google Trends

2. Kaum bestreitbare Superwahljahre

2.1 Das Superwahljahr 1990

Laut DWDS war 1990 das Geburtsjahr des Begriffs „Superwahljahr“. Es gab bereits eine Erwähnung im DWDS-Zeitungskorpus (dwds.de). Dies war nämlich das Jahr in dem die ersten demokratischen Wahlen in der DDR stattfanden: Kommunalwahlen, Landtagswahlen und eine Volkskammerwahl. Außerdem wählten noch die alten Bundesländer Saarland, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Dazu kam auch noch die Bundestagswahl, für die erstmals Bürger aus 16 Bundesländern wählen durften. Auch in Berlin wurde das Landesparlament neugewählt. Alle 6 Kommunalwahlen, 10 Landtagswahlen und die beiden Wahlen auf höchster Ebene zusammen ergaben 18 Wahlen in einem Jahr. Es gibt nur einen Grund, 1990 nicht als ein Superwahljahr zu bezeichnen: Der Begriff hatte sich 1990 noch nicht durchgesetzt und wurde eben kaum für eine Häufung von Wahlen in einem Kalenderjahr verwendet.

2.2 Das Superwahljahr 1994

Doch in Mode war der Begriff erst 1994 mit 624 Treffern. In diesem Jahr gab es, wie bereits 4 Jahre zuvor in den neuen Bundesländern Landtags- und Kommunalwahlen und auch die Bundestagswahl. Da im Laufe der nächsten Jahre Legislaturperioden vereinzelt verlängert oder durch vorgezogene Wahlen kürzer wurden, gab es nicht mehr alle 4 Jahre automatisch ein Superwahljahr durch die 5 neuen Bundesländer. 1994 wurde zudem in Niedersachsen, Bayern und im Saarland gewählt. 1994 wurden der Bundestag (BT) und das Europäische Parlament (EP) gewählt, dazu gab es 9 Kommunalwahlen (d.h. 9 Flächenländer, in denen Kommunalwahlen stattfanden) und 8 Landtagswahlen, insgesamt fanden also 19 Wahlen statt. Eine so große Anzahl von Wahlen gab es in der BRD bislang nur ein einziges Mal.

2.3 Das Superwahljahr 2009

Obwohl der Begriff des Superwahljahrs noch einmal 2004 einen kurzen und eher kleinen Höhepunkt 2004 aufgrund vieler Kommunalwahlen und 5 Landtagswahlen und einer Wahl des EP hatte, war erst 2009 wieder ein richtiges Superwahljahr. Das Wort „Superwahljahr“ war laut DWDS deutlich weniger präsent als noch 1994, aber es gab einen deutlich Zuwachs an Verwendungen. 6 Landtagswahlen, dazu noch der Bundestag und das Europäische Parlament und 7 Kommunalwahlen machten das Jahr 2009 zu einem Jahr mit 15 Wahlen.

3. Fragwürdige Superwahljahre

3.1 Das Superwahljahr 2004?

Das Jahr 2004 hatte mit einer Europawahl, Kommunalwahlen in 7 Bundesländern und 5 Landtagswahlen insgesamt durchaus viele Wahlen. Damit scheint der Ausschlag bei den Suchbegriffen auf Google Trends gerechtfertigt. Auch das DWDS zeigt einen höheren Ausschlag, wenngleich geringer als 2011. Aber im Vergleich zu anderen Jahren war bloß die Zahl der Kommunalwahlen hoch. Die 5 Landtagswahlen liegen nur gering über dem Nachwende-Schnitt von 3,75 Landtagswahlen pro Jahr. Als ein Superwahljahr kann man 2004 nur bezeichnen, wenn man die Kommunalwahlen in ihrer Bedeutung ähnlich gewichtet wie die Kommunalwahlen.

3.2 Das Superwahljahr 2011?

Der o.g. Wikipedia-Artikel nennt 2011 ein „Superwahljahr“. Auch ein Ausschlag im DWDS spricht dafür, dass dieses Jahr ein solches ist. Es gab 3 Kommunalwahlen und 7 Landtagswahlen – doppelt soviele Landtagswahlen wie in einem durchschnittlichen Jahr, mit insgesamt 10 Wahlen allerdings nur 3 über dem Schnitt und 50% unter dem Superwahljahr 2009, welches doch von den oben genannten den Titel noch am wenigsten verdient hatte.

Anstelle des Jahres 2011 sollten die Jahre 1999 und 2004 als Superwahljahre bezeichnet werden. In diesen Jahren gab es jeweils die Wahl des EP und dazu noch 7 bzw. 5 Landtagswahlen und 8 bzw. 7 Landtagswahlen. Im direkten Vergleich zwischen 1999 und 2011 haben beide 7 Landtagswahlen, aber 1999 hat mehr Kommunalwahlen und die Wahl des EP. Die Popularität eines Begriffs muss eben nicht mit Zahlen und Fakten zusammenhängen.

3.3 Das Superwahljahr 2021?

Als ein Superwahljahr wird im o.g. Wikipedia-Artikel auch 2021 genannt. Das DWDS kann vor Ende dieses Jahres natürlich keine Statistik zu diesem Jahr herausgeben. Da hilft zur Einschätzung nur ein Blick auf die Wahlen: 6 Landtagswahlen, so viel wie 2011 nicht mehr, die Bundestagswahl und Kommunalwahlen in Niedersachsen und Hessen. Wenn man dieses nur leicht überdurchschnittliche Wahljahr als ein Superwahljahr bezeichnet, dann war natürlich auch 2011 ein solches. Aber vermutlich verkaufen sich Artikel (bessergesagt: Titel) mit diesem Wort supergut.

4. Gewichtung von Wahlen

Angenommen, in ganz Deutschland finden nächstes Jahr in jeder Stadt, jeder Gemeinde und in jedem Kreis Kommunalwahlen statt, aber sonst keine anderen Wahlen. Und im Jahr darauf gibt es 4 Landtagswahlen und die Wahl des Bundestags. Welches Jahr ist eher ein Superwahljahr? In Ersterem werden wesentlich mehr Abgeordnete gewählt, aber Letzteres wäre medial präsenter.

Wann ist ein Wahljahr super? Wenn 6 Landtage (bzw. Abgeordnetenhäuser/Bürgerschaften usw.) gewählt werden? Oder 3 Landtage und der Bundestag? Oder Kommunalwahlen in 10 Bundesländer, 2 Landtagswahlen und die Wahl des Europäischen Parlaments?

Es ist reine Willkür, wie man welche mindestens bundeslandweiten Wahlen gewichtet. Es gibt allerdings durchaus eine Möglichkeit, Maßstäbe für diese Begriffe zu testen. Spielt man verschiedene Gewichtungen durch und legt einen Schwellwert für die Bezeichnung als Superwahljahr fest, wird ganz konsistent für jedes Jahr festgelegt, ob es sich um ein Superwahljahr handelt oder eben nicht.

Erstes Beispiel: Wenn man jede Wahl ab 1990 gleichgewichtet mit dem Faktor 1, und einen Schwellwert von 15 festlegt, ist jedes Jahr mit 15 Wahlen ein Superwahljahr: Das sind die Jahre 1990, 1994, 1999 und 2009.

Zweites Beispiel: Legt man abweichend vom ersten Beispiel den Faktor für die Kommunalwahl auf 0 fest, wird in keinem Jahr mehr der Schwellwert von 15 erreicht. Ein Schwellwert von 9 wird in 1990 und 1994 erreicht.

Drittes Beispiel, folgende Gewichtung für die Bedeutung der Wahlen: Für Landtagswahlen den Faktor 1; Bundestagswahlen den Faktor 3, also gleich 3 Landtagswahlen; EP-Wahl Faktor 2; Kommunalwahl Faktor 0,5. Mit dieser Gewichtung gibt es für einen Schwellwert von 15 ein Superwahljahr: 1990. Ein Schwellwert von 5 macht 16 aus 33 Jahren zu Superwahljahren.

Ein guter Schwellwert scheint bei dieser Gewichtung der Wahlen 10 zu sein: Das macht die Jahre 1990, 1994 und 2009 zu Superwahljahren. Aber natürlich ist das alles willkürlich – allerdings nicht so willkürlich wie 2011 zu einem Superwahljahr zu erklären, aber 1999 nicht.

5. Superwahljahre vor der Wiedervereinigung?

In diesem Artikel ging es hauptsächlich um die Anwendung des recht jungen „Superwahljahr“-Begriffs auf Wahlen ab 1990. Erst ab 1990 gab es auf dem ganzen heutigen Staatsgebiet demokratische Wahlen.

Ab 1990 finden pro Jahr im Schnitt 3,7 Landtagswahlen statt, das sind etwas weniger als 25% der Bundesländer. Vor 1990 gab es nicht 16 Bundesländer, sondern 10 plus Westberlin. Was wären also zwischen 1946 und 1989 Superwahljahre? Einige Beispiele (berücksichtigt werden nur demokratische Wahlen von Landtagen, Bundestag und EP):

  • 1946: Bayern, Groß-Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Sachsen, Württemberg-Baden
  • 1950: Bayern, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden
  • 1970: Bayern, Hessen, Saarland, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg
  • 1975: Bremen, Saarland, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Berlin
  • 1983: Bundestag, Bremen, Hessen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz
  • 1987: Bundestag, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Bremen, Schleswig-Holstein

6. Fazit

Zurück zur Ausgangsfrage: Warum war 2011 ein Superwahljahr und 1999 nicht? Es gibt keine objektiven Kriterien, die das rechtfertigen. Wahljahre können nicht auf diesen Begriff mit einer konsistenten Gewichtung von Anzahl oder Bedeutung von Wahlen so getestet werden, dass 2011 als ein Superwahljahr bezeichnet wird und 1999 nicht. Es ist Willkür oder einfach das modische Auf und Ab der Wortverwendungen.

Mit Sicherheit kann man die Jahre 1990, 1994 und 2009 als Superwahljahre bezeichnen, wenn man Zahlen als Grundlage nimmt. Wird dagegen nur auf den Gebrauch des Wortes "Superwahljahr" geachtet, kommen einige Jahre hinzu, die eine nur leicht überdurchschnittliche Anzahl von bedeutsamen Wahlen hatten.

Die Wahljahre 1990 bis 2021 mit allen Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und EP-Wahlen finden sich mit der Möglichkeit der Berechnung von Gewichtungen hier als Excel-Tabelle zum Download: superwahljahr.xlsx