Literalität mesopotamischer Frauen

  • Von Michael Crass
  • 14. November 2017

Heute herrscht über die Literalität, also die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, in Mesopotamien das Bild der wenigen männlichen Eliten vor. Nur wenige Menschen konnten in Mesopotamien lesen und schreiben. Und das waren nur Männer. Auch in Mesopotamien, vor 3.000 bis 4.000 Jahren, gab es Schulbuchbeispiele mit der Arbeitsteilung nach Geschlechtern: Der Vater kümmert sich um die Bildung des Jungen und die Mutter kocht. Das impliziert, dass Frauen nicht fähig des Schreibens und Lesens waren. Es gibt allerdings einige Gründe, an dieser Darstellung zu zweifeln.

Göttinnen

Wenn Schüler Schreibaufgaben gemeistert hatten, priesen sie oft eine Gottheit. Diese war weiblich. Überhaupt waren Verwaltung, Schrifttum, Messungen, Rechenwesen, Weisheit und Wissen fast ausschließlich mit weiblichen Göttern assoziiert. Das hängt damit zusammen, dass das Führen von Haushalte, was in dieser Zeit eine weibliche Aufgabe war, unter anderem aus Verwaltungsaufgaben besteht. So gab es eine Göttin für die Verwaltung des Jenseits bzw. der Toten und auch eine Göttin des Schreibens. Das ändert allerdings nichts daran, dass es mehr Schreiber als Schreiberinnen gab.

Quellen

Zugang zu Mesopotamien hat man heute über wenige schriftliche Quellen. Es gibt hauptsächlich Inschriften und Tontafel. Beide deuten überwiegend auf Männer. Inschriften, im Sinne von Nachrichten/ Bitten an Götter und ihr Wohlwollen, in Statuen mussten bestellt und bezahlt werden und wurden von professionellen Schreibern ausgeführt. Inschriften war von einem Menschen und für einen Menschen. Gesichert ist, dass deutlich mehr Inschriften in Statuen für Männer sind, jedoch nicht wie viele davon nicht von Männern, sondern von Frauen beauftragt sind. Klar ist nur, dass bei Inschriften auf weiblichen Statuen, also auch für Frauen, die Auftraggeber weiblich waren. Es war nicht ungewöhnlich, dass Frauen hinter Inschriften standen. Der Unterschied zwischen der Präsenz von Frauen und von Männern bei Inschriften muss kein Hinweis auf einen Unterschied zwischen der Literalität der Geschlechter sein; es ist wohl der soziale Status: König oder Untertan. Könige waren Männer. Dementsprechend gab es notwendig mehr Inschriften für Männer. Von wem sie sind, ist allerdings nicht einfach zu klären.

Bei Tontafeln können zum Beispiel Briefe betrachtet werden. Es muss unterschieden werden nach der Art des Briefes: Da Frauen weder Könige noch Militärs oder hohe Verwaltungsbeamte waren, waren Briefe dieser Kreise ausschließlich von Männern. Dagegen waren schriftliche Gebete oder Bitten an Könige eine Sache von jedem: Krankheiten oder Schicksalsfälle konnten Männer wie Frauen treffen. Solche Briefe waren auch oft von Frauen.

Die Herkunft oder die Stellung entschieden mehr darüber, ob ein Mensch Schreiber war oder nicht. In der gesellschaftlichen Elite wurden auch Frauen im Schreiben unterrichtet. Dann waren sie in dieser Hinsicht gleichgestellt. Es gab mehr Schreiber als Schreiberinnen, aber die Ausbildung beider Geschlechter war identisch. Schreiberinnen traf man vermehrt in Palästen als Dienerinnen von Königinnen, wo fremde Männer nicht erlaubt waren.

Es gab im 19./18. Jhd v.u.Z. eine Art „Kloster“ (in Sippar, im Naditum-Viertel): Dort waren Frauen höherer Herkunft. Sie gaben sich einem Gott hin, lebten keusch und unabhängig in einem baulich abgegrenzten und bewachten Viertel. Politisch, rechtlich und wirtschaftlich waren sie selbstständig. Diese Frauen waren höher gebildet und konnten schreiben und lesen. Von ihnen gibt es mehr Tontafeln.

Literalität nicht völlig exklusiv

Wie mittlerweile bekannt ist, konnte in Mesopotamien nicht nur eine kleine Elite schreiben und lesen. Es kam vielmehr auf das „Subsystem“ der Schrift an, auf den sozialen Kontext bzw. die Funktion. Nicht Jeder musste die gesamte Anzahl der Schriftzeichen kennen, Vereinfachungen waren üblich – je nach Beruf. Im kaufmännischen Kontext war es üblich, einige Zeichen zu kennen, und damit Waren zu identifizieren und zuzuordnen oder Geschäfte abzuwickeln. Auch kannten einige höhere Militärs die Grundlagen des Schreibens (und auch der Opferschau oder dem Wahrsagen aus Vogelbetrachtungen). Nicht in jedem Beruf konnte man sich stets professionelle Schreiber leisten.

Nur Wenige konnten „alles“ lesen und schreiben: Sie waren professionelle Schreiber. Doch viele in höheren Schichten konnten mit Schrift umgehen. Wenigstens in diesen höheren Schichten war es notwendig und üblich sowohl menschliche Texte lesen/schreiben zu können als auch göttliche Nachrichten lesen zu können – um mit den Spezialisten sich austauschen zu können. Ein Grundverständnis hatten Menschen der höheren Schicht – eben auch Frauen. Fraglich scheint dies bei Frauen, die nicht der Elite angehörten, mehr als bei ebensolchen Männern, da Männer eher Berufe auszuüben hatten, in denen man etwas lesen und schreiben musste. Die Masse der mesopotamischen (Land-) Bevölkerung war jedoch nicht geschult im Lesen und Schreiben.

Fazit

Qualität und Quantität sind besonders bei der Literalität der Geschlechter zu unterscheiden: Die Masse der Fundstücke stammen von Männern. Der Unterschied erklärt sich hauptsächlich durch die Stellung in der Gesellschaft: In der Elite konnten Männer und Frauen gleichermaßen lesen und schreiben. Durch die Berufe, die wiederum mit dem Geschlecht zusammenhingen, lernten mehr Männer als Frauen zu schreiben. Frauen waren nicht oder seltener Kaufleute oder Verwaltungsbeamte. Dagegen waren mehr Frauen als Schreiberinnen am Palast tätig. Die Qualität der Ausbildung von Frauen stand der der Männer jedoch um nichts nach.


Literatur: Brigitte Lion, Literacy and Gender

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