Willensschwäche bzw. Akrasia nach Peter Abaelard

Wie betrachtet Peter Abaelard die Willensschwäche? Welche Rolle spielen Zwang und Freiwilligkeit?

Das Thema „Willensschwäche“ scheint heute wichtiger denn je zu sein. Mit Industrien, die Unmengen an Verlockungen produzieren und bereitstellen, gibt es auch ein großes Angebot an Konsumgütern, die vermeintlich ungesund sind – für Körper oder Geist: Streamingdienste ermöglichen den stundenlangen passiven Konsum von Filmen und Serien, immer neue Nahrungsmittelkreationen verlocken zur Völlerei – von anderen kurzfristig erfreulichen Tätigkeiten ganz zu schweigen. Gleichzeitig gibt es ein rasant wachsendes Gegenangebot aus Gehirntraining-Spielen, „Clean-Eating“-Ratgebern und Coaches, die versprechen, Körper und Geist in die richtige Spur zu bringen. Die Ambivalenz dieser Angebote scheint größer zu werden: Sowohl das Angebot des Angenehmen als auch das Angebot des scheinbar Richtigen wachsen in Qualität und Quantität.[1]

Mit der Frage nach dem richtigen Handeln beschäftigte sich auch Peter Abaelard intensiv. Er diskutierte moralische Normen und illustrierte dies mit vielen Beispielen. Dabei ist auch er auf Fälle gestoßen, die wir heute als Willensschwäche bezeichnen würden, obwohl es vor 800 Jahren dafür sicherlich deutlich weniger Optionen gab. Die vorliegende Arbeit will zeigen, wie Abaelard solche Beispiele erklärt und ob er diese als Willensschwäche bezeichnen würde.

Dazu wird zunächst darauf geschaut, was wir heute unter Willensschwäche verstehen: Wann sprechen wir von Willensschwäche und was sind die notwendigen Bedingungen, um ein Phänomen als Willensschwäche zu bezeichnen? Danach ist auf Augustinus einzugehen, da Abaelard in dessen Tradition steht und auf diesen immer wieder Bezug nimmt. Falls es bei ihm das Phänomen der Willensschwäche gibt, sollte man es auch bei Abaelard erwarten. Um die Rahmenbedingungen zur Diskussion über die Willensschwäche bei Abaelard zu verstehen, wird dann auch auf sein Werk Ethica und die Begriffe darin eingegangen.

Schließlich werden im Kontext der moralischen Verfehlungen einzelne Bedingungen der Willensschwäche anhand Abaelards Beispielen überprüft, um zu klären, ob es bei ihm dieses Phänomen gibt.

Inhalt

Hintergrund

Willensschwäche

In dieser Arbeit geht es um die Willensschwäche bei Abaelard. Vor dem Sprung ins 12. Jahrhundert sollten wir uns klarmachen, welchen Begriff von der Willensschwäche wir haben.

Amélie Rorty nennt folgende notwendige Bedingungen für das Phänomen der Willensschwäche: Es gibt eine „bevorzugte Handlungsweise“ und eine stattdessen gewählte „akratische Alternative“, außerdem muss die akratische, also willensschwache, Person absichtlich und freiwillig handeln. Die Freiwilligkeit bedeutet bei Rorty die Abwesenheit von Zwang oder Nötigung,[2] außerdem muss die Person nachdenken und aufgrund des eigenen Urteils handeln können.[3]

Im Kern sind es also drei Merkmale: Die Person hat mind. zwei Handlungsoptionen: A und B. Sie urteilt, dass A die beste Option ist, und wählt eine Alternative B, obwohl sie A hätte wählen können. Das Phänomen scheint so vertraut, dass seine Existenz nicht hinterfragt zu werden braucht, obwohl seit Platon ebendarüber diskutiert wird.[4]

Augustinus

Bevor wir nun den Schritt ins Mittelalter wagen, müssen wir ins 4./5. Jahrhundert schauen, zu Augustinus[5], denn Peter Abaelard[6] steht in dessen Tradition.[7] Dies ist auch daran zu erkennen, dass Abaelard Augustinus oft zitiert (z.B. §§ 3, 5, 9).

Der römische Bischof schildert in Bekenntnisse (lateinisch Confessiones) im achten Buch, was wir heute als Willensschwäche bezeichnen:

„Es gebietet der Geist dem Körper und er folgt; es gebietet der Geist sich selbst und er findet Widerstand. Er gebietet, daß die Hand sich bewege, und so groß ist die Gelenkigkeit, daß sich kaum der Befehl vom Dienste unterscheiden läßt; und der Geist ist Geist, die Hand aber ist Körper. Der Geist befiehlt, daß der Geist wolle und er ist kein anderer und thut es dennoch nicht. Woher diese seltsame Erscheinung und warum? Der Geist befiehlt, sage ich, daß er wolle; er würde nicht befehlen, wenn er nicht wollte, und es geschieht nicht, was er befiehlt. Aber nicht von ganzem Herzen will er; also befiehlt er auch nicht von ganzem Herzen. Denn, nur insofern befiehlt er, inwieweit er will, und insofern geschieht es nicht, was er befiehlt, inwiefern er es nicht will. Denn der Wille befiehlt, daß der Wille sei, und kein anderer, sondern er selbst. Daher befiehlt er nicht ganz; darum ist das, nicht was er befiehlt. Wäre der Wille von ganzem Herzen, so würde nicht befohlen zu sein, weil es schon wäre! Also ist es nichts Seltsames, theils zu wollen, theils nicht zu wollen, sondern es ist eine Krankheit der Seele, weil nicht der ganze Geist sich aufrichtet, von der Wahrheit emporgehoben, von der Gewohnheit niedergezogen. Es sind deßhalb zwei Willen, weil der Eine derselben nicht ein ganzer Wille ist, und der Eine nur hat was dem Andern fehlt.“[8]

Augustinus beschreibt ein Phänomen, in dem zwei Motive vorherrschen, die zu einer Handlung führen können. Das Motiv, das ihm „von der Wahrheit emporgehoben“ und daher richtig erscheint, ist es, welches er handlungswirksam sehen möchte. Stattdessen wird die akratische Alternative handlungswirksam, obwohl beide Handlungen möglich waren. Selbst wenn man das Zitat von Augustinus so liest, als ob es nur auf die richtige Erkenntnis ankommt, die dann schon den ganzen Geist aufrichte, und daher meint, die Willensschwäche würde nach Augustinus nicht existieren, so kann man kaum leugnen, folgendes Zitat aus einem Gebet in diversen Variationen bereits von Akratikern gehört zu haben:

„Gib mir Keuschheut und Selbstbeherrschung, aber jetzt noch nicht“[9]

Von Mitmenschen oder einem selbst kennt man die Neujahrsvorsätze, die gerne schon Monate zuvor gefasst sind, und Themen wie bspw. Sport, Tabak und Zucker betreffen. Vorsätze sind in der Regel gute Motive, aus denen man Handlungen folgen sehen möchte. Datiert werden sie auf besondere Tage, die in der Zukunft liegen, sodass in der Gegenwart noch Laster ausgelebt werden können, obwohl ein besseres Verhalten bereits jetzt möglich wäre.

Paradox ist das letzte Zitat allerdings im Kontext des ersten: Augustinus hat prinzipiell den Willen, die bevorzugte Handlung auszuführen, und zugleich den Willen zur schlechteren Alternative. Er will Ersteres, das er scheinbar nicht genug will, mit ganzem Herzen wollen, aber das erst zu einem späteren Zeitpunkt. Den Konflikt, den der Akratiker hat, hätte er nicht, wenn sein Gebot erhört werden würde, und er von „ganzem Herzen“ das richtige wollen würde. Dennoch möchte er den Konflikt erst zu einem späteren Zeitpunkt auflösen. Das scheint beinahe ein Prokrastinieren auf einem höheren Niveau zu sein, da die üblichen Vorsätze keine Gebete sind, die den Willen zum bevorzugten Handeln stärken würden, sondern gerade Ausdruck der Willensschwäche sind.

Ethica und Begriffe

Mit seiner Ethica, dem als Scito te ipsum oder Erkenne dich selbst bekannten Werk möchte Peter Abaelard moralische Begriffe und Konzepte diskutieren, klären und auch erklären. Dabei entsteht ein Netz an zusammenhängenden Begriffen.[10] Daher ist es notwendig, in einem größeren Rahmen zu beginnen, bevor auf das Phänomen der Willensschwäche bei Abaelard selbst eingegangen werden kann.

Das Buch ist gegliedert in zwei Teile. Im ersten Teil (§§1–50)[11] ergründet Abaelard den Begriff der Sünde und im zweiten Teil (§§51ff.) geht es um die Versöhnung.[12] In den ersten zehn Paragrafen findet sich auch eine Beschreibung des Phänomens der Willensschwäche, da er dies im Kontext der moralischen Verfehlungen diskutiert.

Um von moralischen Verfehlungen zu sprechen, müssen noch einige Begriffe Abaelards geklärt werden: So wie Körper positive und negative Eigenschaften haben und stark oder schwach, sehend oder blind und schnell oder träge sein können (§2), haben Personen, die er dualistisch von Körpern trennt (§1), eine Verfassung mit Eigenschaften. Diese Eigenschaften können entweder moralisch nicht bewertbarer Natur sein (§1) (dennoch positiv oder negativ) wie ein gutes oder schlechtes Gedächtnis, eine „eine schnelle Auffassungsgabe“ oder Wissen und Unwissen; oder sie werden „Sitten“ genannt und könnten als Neigungen bezeichnet werden. Diese Neigungen sind entweder Tugenden und neigen die Person dazu, Gutes zu tun, wie Maßhalten, Gerechtigkeit oder Standhaftigkeit; oder es sind Schwächen bzw. Laster wie die Maßlosigkeit, Ungerechtigkeit oder Verzagtheit (§2). Laster, zu denen bspw. auch die Neigung zum Jähzorn gehört, steigern die Bereitschaft der Person, schlechte Handlungen auszuführen. Sie verleiten uns dazu, etwas Unrechtes zu tun, oder etwas Rechtes zu unterlassen. Eine moralische Verfehlung besteht darin, einem Laster nachzugeben und eine schlechte Intention zu einer Handlung zu haben (§8), was Abaelard „Zustimmung geben“ nennt (§3). Eine moralische Verfehlung ist es nach Abaelard deshalb, weil Gott missachtet werden würde. Man solle auf keinen Fall etwas tun, „wovon wir glauben, dass es unterlassen werden soll.“ (§3) Damit scheint die moralische Bewertung einer Handlung zum einen die Handlung selbst außenvorzulassen,[13] und zum anderen die Intention von Vermutungen/Glauben allein abhängig zu machen. Letzteres ist allerdings nicht der Fall, obwohl es Autoren gibt, die mit Blick auf die einschlägige Textstelle Abaelards urteilen: „Handelt man mit guter Intention, aber tut aus gutem Gewissen das Falsche, trifft einen zwar keine Schuld, jedoch ein Verdienst kann man auch nicht verbuchen.“[14]

Überzeugender ist allerdings die Lesart, dass für Abaelard die Richtigkeit der Intention wichtig ist. Eine Handlung ist nach Abaelard also gut, und damit eine bevorzugte Handlung, wenn die Intention dieser Handlung richtigerweise als gut eingeschätzt wird:

„Einige vermuten, eine Intention sei gut oder richtig, sooft einer glaubt, er handle gut, und das, was er tut, gefalle Gott, z.B. auch jene Leute, welche die Märtyrer verfolgten; von ihnen sagt die Wahrheit im Evangelium: Es kommt die Zeit, daß jeder, der euch tötet, meinen wird, er leiste Gott Gehorsam. Der Apostel, der ihre Unkenntnis bemitleidet, formuliert: Ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer haben für Gott, doch ohne Erkenntnis, gemeint ist, sie zeigen große Leidenschaft und Begeisterung bei der Ausführung ihrer Taten, die sie für gottgefällig halten. Doch weil sie sich in ihrem persönlichen Eifer und Bemühen täuschen, ist ihre Intention verfehlt, und das Auge ihres Herzens ist nicht einfach, daß es klar sehen, d.h., daß es sich vor Irrtum vorsehen könnte. […] Also darf man die Intention nicht deshalb gut nennen, weil sie gut scheint, sondern weil sie darüber hinaus so ist, wie sie eingeschätzt wird; das ist dann der Fall, wenn jemand überzeugt ist, die von ihm beabsichtigte Handlung gefalle Gott so, daß er sich obendrein in seiner Einschätzung nicht täuscht. Anderenfalls würden selbst die Ungläubigen – genauso wie wir – gute Werke verrichten, da sie nicht weniger als wir überzeugt sind, durch ihre Werke gerettet zu werden oder ihrem Gott zu gefallen.“ (§36)

Also: Laster verleiten Menschen zu schlechten Handlungen. Ungeachtet des Erfolges der Ausführung der Handlung (§§8f.) ist die Einwilligung in die Handlung, wenn sie richtigerweise als nicht gottgefällig eingeschätzt wird, eine moralische Verfehlung.

Derlei moralische Verfehlungen lassen sich vorerst in drei unterschiedliche Kategorien gliedern:

  1. Moralische Verfehlungen, die aufgrund äußeren Zwangs in Kauf genommen werden
  2. Moralische Verfehlungen ohne äußeren Zwang, die
    1. freiwillig begangen werden
    2. unfreiwillig begangen werden

Moralische Verfehlungen ohne bösen Willen

Mit äußerem Zwang: unfreiwillig in Kauf genommen?

Der für die Willensschwäche bereits als bedeutend bezeichnete Zwangscharakter wird zum Vergleich und zur Klärung nun in diesem Abschnitt der ersten Kategorie der moralischen Verfehlungen bei Abaelard untersucht. In §§5f. gibt er uns ein Beispiel, in dem aus Notwehr gehandelt wird: Ein Herr rennt seinem Diener mit Tötungsabsicht hinterher. Nach einiger Zeit der Flucht gerät der Diener in eine Situation, in der er sich entscheiden muss, ob er getötet wird oder tötet. In Notwehr tötet er seinen Herrn, obwohl er diese konkrete Absicht nicht explizit hatte, sondern die Tötung nur zum Schutz seines eigenen Lebens in Kauf nahm.

Abaelard stellt fest, dass der Wille (= „Motiv“ oder „Wunsch“) des Dieners nicht moralisch schlecht war, da dieser explizit nur das Fliehen vor dem eigenen Tod beinhalt hatte. Der Diener hatte nicht den Willen, den Herrn zu töten. Moralisch verwerflich war die Handlung dennoch, da er die Tötung des Herrn in Kauf genommen hatte. Er habe sich zwar unfreiwillig dazu entschieden, ein Schwert zu nehmen und nutzen, es wurde ihm allerdings nicht in die Hand gedrückt (§5). Er hätte sich nach Abaelard aber richtigerweise töten lassen, anstatt selbst zu töten.

Inwiefern das Inkaufnehmen moralisch zu bewerten ist, diskutiert Abaelard so:

Er fragt sich, ob vielleicht die in Kauf genommene Tötung ein Leiden sei. Implizit meint er damit, dass die Tötung damit keine moralische Verfehlung wäre.

Er argumentiert: Wenn eine Handlung nicht gegen den eigenen Willen geschieht, liegt kein Leiden vor.

Da der Diener sich allerdings für das eigene Leben entschieden hat, ist die Tötung nicht gegen den eigenen Willen geschehen. Auch ohne den bösen Willen zur Tötung war diese eine moralische Verfehlung.

Wir sehen, dass sich hinter der Kategorie „mit äußerem Zwang“ eigentlich zwei verschiedene Fallarten verbergen: Da der Diener durchaus die Handlungsfreiheit hatte, und es ihm nicht „von der Behörde übergeben“ (§5) wurde,[15] war dies nur ein begrenzter äußerer Zwang. Denkbar ist auch ein Szenario ohne Handlungsfreiheit. Offen bleibt allerdings, ob eine Einwilligung in eine unbewusste Handlung auch eine moralische Verfehlung darstellt.

Jedenfalls gibt es nach diesem Beispiel, so Abaelard, klarerweise einen Fall moralischen Vergehens ohne Freiwilligkeit.

Mit der Definition von Amélie Rorty handelt es sich in diesem Fall nicht um Willensschwäche, da der Diener, wie auch Abaelard meint, nicht freiwillig gehandelt hat. Dazu ist auch unklar, welche Handlung der Diener „bevorzugt“ hat oder haben hätte können.

Ohne äußeren Zwang

freiwillig

Die klassischen Beispiele für Willensschwäche behandeln den Umgang mit Primärbedürfnissen. Bei Abaelard werden diese auch thematisiert: sexuelle Gier und gefräßige Genusssucht (§9). Die persönlichen Laster können den Menschen bspw. dazu geneigt machen, der Essenslust nachzugeben und Früchte zu stehlen (§9). Diese Laster, d.i. schlechten Neigungen, sind nach Abaelard nicht zu verurteilen, wohl aber das Einverständnis mit einem solchen Laster bzw. bösen Willen (§9).

Diese Verlangen (Willen) können zurückgedrängt werden, sodass keine moralische Verfehlung begangen wird. Wer sich aber verleiten lässt oder sehr bereitwillig seine Einwilligung zu einer schlechten Handlung gibt und weiß, dass erstens die Intention falsch ist,[16] und zweitens er eine Strafe dafür verdient, obwohl er nicht bestraft werden möchte (§10). Das ist nach Abaelard eine freiwillige moralische Verfehlung ohne äußeren Zwang, da das Ungerechte gewollt wird.

unfreiwillig

Im Gegensatz dazu beschreibt Peter Abaelard einen Fall, den wir heute als Willensschwäche bezeichnen würden:

„Es gibt einige, die sich gewaltig ärgern, daß sie sich hinreißen lassen, der Begierde oder einem bösen Wunsch zu zustimmen, und durch die Schwäche des Fleisches werden sie gezwungen, das zu wollen, was sie niemals als ihr Wollen befürworten würden.“ (§10)

In diesem Fall spricht Abaelard davon, dass eine Zustimmung gegeben wird, obwohl das nicht freiwillig geschieht. Da das Verlangen vorhanden ist, gibt es auch einen Willen (§9). Freiwillig war dies nach Abaelard aber nicht.

Abaelard möchte jetzt den Standpunkt, dass nicht jede moralische Verfehlung freiwillig geschieht, verteidigen.[17] Damit würde er auch den Fall oben verteidigen. Würde er damit auch dafür argumentieren, dass es so etwas wie die Willensschwäche gibt? Wir erinnern uns an die drei Merkmale der Willensschwäche: Erstens gibt es eine bevorzugte Handlung, zweitens gibt es die akratische Alternative, die drittens freiwillig gewählt wird – d.h. ohne Zwang oder Nötigung, da eine andere Option hätte gewählt werden können. Abaelard versucht hier also im Kern diese moralische Verfehlung und das was wir als Willensschwäche bezeichnen zu verteidigen, in dem er der Handlung die Freiwilligkeit abspricht, wodurch diese für uns kein Fall von Willensschwäche mehr sein könnte. Ohne Freiwilligkeit gibt es keine Willensschwäche.

Peter Abaelard versucht also unterstützende Argumente für die gegenteilige These zu finden und möchte demonstrieren, dass diese Konklusionen haben, denen man nicht zustimmen kann. Damit könnte man auch der Gegenthese nicht zustimmen.[18] Diese Gegenthese lautet: „Jede moralische Verfehlung geschieht freiwillig.“

Wie ist das nun möglich? Zum einen, so Abaelard, könnte man jede Handlung, die unter „Ausschluss des Notwendigen“ geschieht, als „freiwillig“ bezeichnen. Diese Notwendigkeit könnte man theologisch-deterministisch verstehen. Da allerdings Abaelard von einer Willensfreiheit der Menschen ausgeht,[19][20] sind menschliche Handlungen frei von göttlicher Lenkung oder göttlichen Eingriffen. Wenn jede Handlung freiwillig geschieht und damit vermeidbar ist, dann ist es auch jede moralische Verfehlung, was für Abaelard anscheinend eine undenkbare Folge ist (§10).

  1. Jede Handlung ist freiwillig, wenn sie nicht mit Notwendigkeit geschehen musste.
  2. Menschen haben Willensfreiheit.
  3. Also ist jede Handlung freiwillig (=vermeidbar).
  4. Eine moralische Verfehlung ist eine Handlung.
  5. Also ist eine moralische Verfehlung immer freiwillig (=vermeidbar).

Das Argument ist gültig: Wenn die Prämissen fürwahr gehalten werden, muss auch die Konklusion fürwahr gehalten werden. In diesem Argument wird die Freiwilligkeit anders definiert als sie in der vorliegenden Arbeit eingangs definiert wurde. Während freiwillig bei Rorty bedeutet, dass weder Zwang noch Nötigung vorlag, wird hier von einer Notwendigkeit gesprochen. Wenn „freiwillig“ damit bedeutet, dass keine naturgesetzliche (oder göttliche) Determination Handlungen bestimmt, ist auch jede Handlung unter Nötigung freiwillig, außer man vertritt eine deterministische Position. Das bedeutet allerdings nicht, dass Schüler oder Arbeitnehmer das Gefühl haben, sie kämen ihren Pflichten einfach freiwillig nach – ganz zu schweigen von Menschen, die erpresst werden. Es gibt nicht immer gute alternative Handlungsoptionen. Mit Amélie Rorty können wir also der ersten Konklusion nicht zustimmen, weil sie die Definition von Freiwilligkeit der ersten Prämisse nicht teilt. Freiwilligkeit scheint etwas zu weit gefasst zu sein. Auch Abaelard kann der ersten Prämisse natürlich nicht zustimmen, weil er die Freiwilligkeit noch enger fasst als in dem Argument und auch enger als Rorty „freiwillig“ versteht. Dem Argument könnte man also nicht zustimmen und dieser Versuch, die Gegenthese „Jede moralische Verfehlung geschieht freiwillig.“ zu stützen ist gescheitert, was in Abaelards Sinne ist.

Abaelards zweite Möglichkeit, die Gegenthese zu unterstützen, basiert darauf, jede Handlung, die aus einem Willen hervorgeht, als freiwillig zu bezeichnen. Da auch der Diener des ersten Falls einen Willen für seine Handlung hatte, so müsste auch die Tötung als freiwillig zu bezeichnen sein, obwohl er ihn nicht töten wollte, sondern es nur in Kauf nahm (§10).

  1. Für alle Handlungen gilt: Wenn es für sie einen ursächlichen Willen gibt, ist diese freiwillig.
  2. Die Tötung des Herrn durch seinen Diener hat einen ursächlichen Willen.
  3. Also: Die Tötung des Herrn durch seinen Diener geschieht freiwillig.

Das Argument ist nicht gültig. Die Struktur nötigt nicht dazu, die Konklusion fürwahr zu halten, falls die Prämissen wahr sind. Der ursächliche Wille, d.h. das Motiv oder der Wunsch, für die Handlung ist vorhanden: Der Diener möchte am Leben bleiben. Dieses Motiv ist allerdings nicht dasselbe, auf das in der Konklusion Bezug genommen wird. Ein Motiv „Ich möchte den Herrn umbringen“ ist nicht vorhanden. Auch wenn es vorhanden wäre, muss es nicht ursächlich sein. Wir erinnern uns: Laster oder Tugenden allein sind auch nicht gut oder böse. Man muss den Neigungen nicht nachgeben.

Abaelard kann dem Argument aber deswegen nicht zustimmen, weil er der ersten Prämisse nicht zustimmen kann. Aus demselben Grund könnte auch Rorty nicht zustimmen. Die Freiwilligkeit kann nicht so eng gefasst werden.

Könnte man die Konklusion dennoch fürwahr halten? Abaelard verneint das aufgrund des äußeren Zwangs, ebenso Rorty. Eine extreme Position wäre allerdings auch möglich: Der Diener hätte sich anders entscheiden und sich töten lassen können.

Geschieht damit jede moralische Verfehlung freiwillig? Für die vorliegende Arbeit ist die moralische Komponente weniger relevant.[21] Die Freiwilligkeit ist dagegen eine zentrale Komponente der Willensschwäche. Abaelard meint, eine moralische Verfehlung kann auch unfreiwillig sein, da er die Freiwilligkeit sehr eng definiert. Mit ihm ist schon keine Freiwilligkeit mehr gegeben, wenn innere Zwänge – von Krankheiten abgesehen –, d.h. ein starkes Laster, vorhanden sind. Man könnte mittels eines Körper-Seele-Dualismus die Fleischesschwäche als einen äußerlichen Zwang verstehen, durch den die eigene Person gewissermaßen nicht mehr Herr im eigenen Haus sei. Wenn man in diesen Situationen nur Beifahrer im eigenen Leben ist, kann man sich allerdings auch nicht mehr entscheiden, einer schlechten Neigung, dem Laster, nachzugeben – wodurch es sich auch nicht um eine moralische Verfehlung handeln kann, da dies für Abaelard eine Bedingung dafür war: Ohne eine Zustimmung zu einem Laster gibt es keine moralische Verfehlung.

Abaelard spricht allerdings eindeutig davon, dass eine Einwilligung stattfindet. Diese wurde zwar erzwungen, aber eben nur innerlich. Es findet die Entscheidung der Einwilligung statt. In diesem Sinne hätte man sich anders entscheiden können, hat das allerdings nicht getan. Es gab einen Zwang, der dazu geführt hat, dass die akratische Person, nicht das Gefühl hatte, eine Wahl gehabt zu haben. Der Unterschied zum Fall mit dem tötenden Diener ist jedoch, dass der Zwang dort äußerlich war und der im Fall der sexuellen Begierde innerlich. Sofern hier keine Krankheit vorlag, ist dies nicht als zwanghaft, sondern als freiwillig zu bezeichnen.

Das Phänomen der Willensschwäche ist also uns wie auch Abaelard (und Augustinus) bekannt. Dieses Phänomen besteht unzweifelhaft zumindest darin, wenigstens zweierlei zu wollen, eines zu bevorzugen und dennoch das andere auszuführen, obwohl es keinen äußerlichen Zwang gab. Auseinander gehen wir mit Abaelard bei der genaueren Analyse dieses Phänomens: Die große Schwierigkeit ist nämlich die Freiwilligkeit. Abaelard unterscheidet in §10 die Freiwilligkeit vom Willen, Motiv oder Wunsch. Kurz: Nicht alles, was man will, will man freiwillig.[22] Fasst man die Freiwilligkeit wie Abaelard sehr eng, so nennt man also nur jene Handlungen ohne den inneren Konflikt, ohne kognitive Dissonanzen, freiwillig. Das ist womöglich ein Ansatz für das hier nicht thematisierte Problem des Umgangs mit der Willensschwäche.

Fassen wir den Begriff der Freiwilligkeit sehr viel weiter, dann gibt es keine Nötigung mehr, und auch keine Zwänge, die nicht naturgesetzlicher Art sind. Insofern ist Rortys Definition von Freiwilligkeit die überzeugendere. An dem erlebbaren Phänomen der Willensschwäche ändert das allerdings nichts.

Fazit

Willensschwäche ist als ein Phänomen zu verstehen, in dem ohne Zwang oder Nötigung – also freiwillig – bewusst der als besser erkannten Handlung eine andere vorgezogen wird. Bei Augustinus, in dessen Tradition Abaelard stand, taucht dieses Phänomen auf. In einem Fall spricht er davon, dass er zwei Willen habe, von denen der bessere sich nicht durchsetzen könne. Der zweite Fall ist ein Gebet, in dem er sich Keuschheit und Züchtigkeit wünscht, aber nicht sogleich. In beiden Fällen gibt es das Richtige und das stattdessen Bevorzugte, obwohl Zwang und Nötigung abwesend sind. Damit gibt es nach Augustinus Willensschwäche.

Bei Abaelard, dessen intensive Untersuchung Hauptgegenstand dieser Arbeit ist, wurden Zwang und Freiwilligkeit in den Mittelpunkt gestellt. Es wurde deutlich, dass für die Frage der Willensschwäche im Kern zwei verschiedene Arten von Handlungen zu unterscheiden sind. Es gibt die Handlungen mit einem äußeren Zwang, bei denen ein Motiv im Vordergrund steht und eine nicht direkt intendierte Folge eines anderen Motivs in Kauf genommen wird. Dem gegenüber stehen Handlungen mit einem einzigen ursächlichen Motiv, zu dem sich die Person gezwungen sieht, obwohl von außen kein Zwang ersichtlich ist.

Vieles dreht sich bei Abaelard um den Begriff der Freiwilligkeit: Die Freiwilligkeit ist scheinbar ein Kontinuum, weil auch Zwang relativ ist. Bedeutet eine freiwillige Handlung A nur, dass es keine physikalische Notwendigkeit für A gibt, also eine andere Handlung B physikalisch genauso möglich ist? Oder wird die Freiwilligkeit etwas enger gefasst und es gibt physikalisch mögliche Handlungen, die unfreiwillig geschehen, wie etwa unter Zwang? Schadet es der Freiwilligkeit von A, wenn die Folge von B der unmittelbare eigene Tod wäre? Diese Form der Freiwilligkeit hatte der Diener, dessen Herr ihn getötet hätte, wenn jeder nicht selbst zum Totschläger geworden wäre. Der Diener hätte sich durchaus anders entscheiden können. Der Christ Abaelard den Standpunkt ein, dass Notwehr unfreiwillig geschieht, aber moralisch dennoch falsch ist, auch wenn das „Hinhalten der anderen Wange“ zum eigenen Tod führt.

Peter Abaelard empfindet auch Motive oder Triebe als innere Zwänge – Krankheiten lassen wir beiseite – und damit geht ihm auch die Freiwilligkeit abhanden. Ein Fall, in dem eine Person von einem Appetit übermannt wird und sich darüber im Klaren ist, dass es nicht die beste Option ist, dem nachzugeben, kann nach Abaelard nicht als Willensschwäche nach unserer Definition bezeichnet werden. Er verneint die Freiwilligkeit, deren Notwendigkeit in der Definition sehr plausibel erscheint. Ist bei starken Motiven oder Trieben – abgesehen von entsprechenden Krankheiten – nicht mehr von einer freiwilligen Handlung zu sprechen? Und wie eng sollte man die Freiwilligkeit fassen? Wie sieht es im Extremfall mit einem Determinismus aus?

Ungeachtet des Problems der Freiwilligkeit gibt es sowohl bei Augustinus als auch bei Abaelard das Phänomen der Willensschwäche: Man erachtet die durchaus mögliche Handlung A für die richtige und wählt stattdessen freiwillig B. Als Bestätigung oder jedenfalls Gefühl der Bestätigung gibt es davor, währenddessen oder[23] danach einen inneren Konflikt, vielleicht danach auch ein Bedauern. Der Begriff der kognitiven Dissonanz bestätigt das auch.

Demnach ist die Willensschwäche ein über Jahrhunderte bekanntes Phänomen, bei dem womöglich fraglich ist, inwiefern man eine Wahl hatte. Doch das führt zu dem großen Komplex der Willensfreiheit.

Abaelard bietet darüber hinaus viele weitere Anknüpfungspunkte zu möglichen weiterführenden Arbeiten. Zum einen ist die Nähe zwischen Abaelards Intention, die allein zähle, zu Kants „gutem Willen“ aus der GMS auffallend. Zum anderen wäre eine Auseinandersetzung mit den begrifflichen Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen Abaelard und Schopenhauer sicher sehr ergiebig: Wie verschiedene Willen auf ein Individuum einwirken, erinnert an Schopenhauers Motive, die allerdings auf den Willen der Person bzw. seinen Charakter einwirken. Außerdem könnte in diesem Kontext beleuchtet werden, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, von einer Willensschwäche zu sprechen. In Abaelards letztem Beispiel wurde kein schwacher Wille beklagt, sondern der Körper gezwungen wurde. Man könnte auch in Abaelards Denken die Laster, d.h. schlechte Willen, als zu stark betrachten, so wie bei Schopenhauer Motive in Abhängigkeit von Charakter und Erkenntnis einfach stärker oder schwächer auf einen Charakter wirken. Und zu guter Letzt führt auch das Wollen oder Nichtwollen eines Willens mit Schopenhauer wieder zu Frage der Willensfreiheit.


[1] Eigentlich sollte man von kurzfristig angenehm und langfristig angenehm sprechen bzw. nicht nur das Handlungsergebnis, sondern auch dessen Eintrittszeitpunkt mitberücksichtigen: Vgl. hierzu George Ainslie, Die Delle in unserer Zukunftsbewertung, in: Thomas Spitzley (Hrsg.), Willensschwäche, Münster 2013, Seiten 139ff.
[2] Vgl. Amélie Rorty, Die gesellschaftlichen Quellen des akratischen Konflikts, in: Thomas Spitzley, a.a.O., Seiten 191f.
[3] Vgl. ebd., Seite 201.
[4] Vgl. Ursula Wolf, Zum Problem der Willensschwäche, in: Thomas Spitzley, a.a.O., Seiten 128ff.
[5] Auch Augustinus von Hippo oder seltener Aurelius Augustinus genannt.
[6] Auch Petrus Abaelardus oder Peter Abelard genannt.
[7] Vgl. Taina M. Holopainen, Intentions and Conscious Moral Choices in Peter Abelard’s Know Yourself, in: Babette S. Hellemans (Hrsg.), Rethinking Abelard : A Collection of Critical Essays, Leiden 2014, Seiten 214.
[8] Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Friedrich Merschmann, Frankfurt 1866, S. 190 (VIII. 9).
[9] Augustinus, Bekenntnisse, zit. N.: Donald Davidson, Wie ist Willensschwäche möglich?, in: Thomas Spitzley, a.a.O., Seiten 86. Auch hier: Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Friedrich Merschmann, Frankfurt 1866, S. 186 (VIII. 7).
[10] Vgl. Peter Abaelard, Scito te ipsum [Ethica]. Erkenne dich selbst. Lateinisch–Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Philipp Steger, Hamburg 2006, Seite XIIf.
[11] Stets zitiert nach: Peter Abaelard, Scito te ipsum, a.a.O.
[12] Vgl. ebd., Seite XV.
[13] Dies ist als Pflichtethik durchaus bekannt und nicht ungewöhnlich, man denke bspw. an Kants „guten Willen“ in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der allein wichtig ist.
[14] Ramin Shafia, Die Häresie in Abaelards „Ethica“, <https://www.hw.uni-wuerzburg.de/fileadmin/ext00107/_temp_/Die_Haeresie_in_Abaelards_Ethica.pdf>, aufgerufen am 18.03.2021, S. 9.
[15] Es ist anzunehmen, dass Abaelard damit mehr als nur eine Übergabe meint. Der Diener hätte nämlich in eine Situation geraten müssen, in der er die Tötung ohne willentliche Handlung verrichtet. Sonst wäre durch eine behördliche Übergabe nichts anders. Es kommt bei Abaelard auf die Intention an.
[16] Man könnte noch darüber spekulieren, was Abaelard dazu sagen würde, wenn eine Person annimmt, dass eine Handlung, die sie intendiert, schlecht ist, sich darin aber irrt. Es dürfte eine moralische Verfehlung sein, wenn dafür tatsächlich die Missachtung Gottes hinreichend ist (§3).
[17] Hier kommt Shafia zu einem anderen Urteil. Für diesen Autoren gibt es nach Abaelard keine moralische Verfehlung ohne Freiwilligkeit, obwohl es Textstellen recht klar machen, dass Abaelards Anliegen ist, zu zeigen, dass es unfreiwillige moralische Verfehlungen gibt. Vgl. Ramin Shafia, Die Häresie in Abaelards „Ethica“, a.a.O., S. 9.
[18] Falls es keine anderen unterstützenden Argumente gibt.
[19] Vgl. Alexander Schroeter-Reinhard, Die Ethica des Peter Abaelard: Übersetzung, Hinführung und Deutung, Freiburg/Schweiz 1999, Seite 219.
[20] Vgl. Ramin Shafia, Die Häresie in Abaelards „Ethica“, a.a.O., Seite 14f.
[21] Vgl. Amélie Rorty, a.a.O., S. 192.
[22] Das erinnert stark die Aussage „Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will“, die in dieser Form Schopenhauer zugeschrieben wird. Interessant ist mit Freud, dem Schopenhauer bekannt war, also auch die Frage, wer „Herr im eigenen Haus“ (nicht) ist.
[23] Das ist ein logisches Oder.